
Dauerbrenner-Thema 24-Stunden-Betreuung. Festakt und internationale Konferenz in Wien
Die 24-Stunden-Betreuung ist eines von vielen Beispielen für große Problemfelder in der österreichischen und europäischen Sozialpolitik. Auf der einen Seite steigt die Anzahl der pflegebedürftigen Menschen – bedingt durch die steigende Lebenserwartung und den Aufbau der österreichischen Alterspyramide – Jahr für Jahr an. Auf der anderen Seite wird es immer schwieriger, genügend BetreuerInnen (meist weiblich, meist aus Osteuropa) für diese belastende Arbeit zu finden. Die Kosten werden über das Pflegegeld zum Teil vom Staat übernommen. Gleichzeitig bleibt ein hoher Anteil des Aufwands bei den Angehörigen pflegebedürftiger Menschen hängen, was viele Familien in erhebliche finanzielle Probleme stürzen lässt. 24-Stunden–Betreuung ist teuer. Eine Patentlösung hat noch niemand gefunden.
Da das Problem nicht an Landesgrenzen Halt macht, bietet sich die europaweite Zusammenarbeit bei der Suche nach Lösungen geradezu an. Schon 1974 gründete das seinerzeitige Noch-Nicht-EU-Mitglied Österreich gemeinsam mit den Vereinten Nationen das Europäische Zentrum für Wohlfahrtspolitik und Sozialforschung in Wien. Seither wird am Institut in der Wiener Berggasse 17 zu brennenden Themen der Sozialpolitik internationale Expertise zur Verfügung gestellt und innovative Sozialforschung im Rahmen europaweiter Zusammenarbeit betrieben.
Zum 50. Jubiläum wird das Sozialministerium nun am 25. September zum Schauplatz eines Festakts, zu dem Sozialminister Johannes Rauch einlädt. Der Minister: „Das Europäische Zentrum erfüllt die wichtige Aufgabe, innovative Entwicklungen zu erkennen, wissenschaftlich zu untersuchen und zu verbreiten – in Österreich und in anderen Ländern – etwa in Bezug auf die alternde Bevölkerung, auf soziale Inklusion, die Arbeitsmarktpolitik oder im Bereich der Langzeitpflege“.
Am 26. und 27. September folgt in der Wiener UNO-City eine internationale Einladungskonferenz mit prominenter Wissenschafts-, aber auch Politik-Besetzung (u. a. die Minister Rauch und Polaschek sowie Regierungsmitglieder aus Moldau, Armenien und der Ukraine), deren vorausblickendes Thema „Die Zukunft von Wohlfahrtspolitik und Sozialforschung“ lautet.
Das Thema Pflege wird bei den Vorträgen und Debatten eine wichtige Position einnehmen. Bei der Konferenz wird auch Kai Leichsenring sprechen, der für pointierte Formulierungen bekannte Direktor des Europäischen Zentrums. Sein Rückblick auf die frühen Jahre der 24-Stunden-Betreuung: „Vor 30 Jahren machte die österreichische Gesellschaft einen glücklichen Fund. Kurz davor war das Pflegegeld eingeführt worden und in der nächsten Umgebung gab es jetzt seit ein paar Jahren durchlässige Grenzen und Nachbarländer, wo Menschen arbeitslos waren bzw. mit ihren mageren Löhnen kaum überleben konnten. Viele von ihnen konnten sogar Deutsch und wurden, anfangs vor allem von Menschen mit Behinderungen im Erwerbsalter, als persönliche Assistentinnen angeheuert und bezahlt – unangemeldet und unbürokratisch, aber natürlich fern jeglicher Legalität. Dieses do-it-yourself Betreuungsmodell wurde dann auch von jenen entdeckt, die ältere Familienmitglieder mit Pflegebedarf betreuen mussten und Platz für eine Betreuerin hatten. Die 24-Stunden-Betreuung war geboren.“
Kai Leichsenring ist Executive Director des European Centre for Social Welfare Policy and Research, Wien. Das European Centre ist den Vereinten Nationen angegliedert und begeht 2024 sein 50. Jubiläum als Zentrum für internationale Forschungs- und Politikexpertise in den Bereichen Sozialer Sicherung, Inklusion, Gesundheit, Langzeitpflege, Beschäftigung und Arbeitskräftemobilität.
Kai Leichsenring steht schon jetzt für Interviews zur Verfügung.
Weitere interessante Themen aus der Internationen Konferenz folgen in Kürze.
Die Zukunft von Wohlfahrtspolitik und Sozialforschung
Festakt: Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz Stubenring 1, 1010 Wien.
Termin: 25. September 2024, 16 Uhr
Konferenz: Büro der Vereinten Nationen in Wien (UNOV), Internationales Zentrum Wien, Wagramer Straße 5, 1220 Wien.
Termin: 26. und 27. September 2024
Akkreditierungen bitte bis spätestens 16. September unter office@binakoeppl.com
Pressestimmen
Der gesamte Text von Kai Leichsenring „Ein glücklicher Fund mit Ablaufdatum. Eine kurze Geschichte der 24-Stunden-Betreuung“ (Deutsch und Englisch verfügbar) kann gerne nach vorheriger Anmeldung bei office@binakoeppl.com honorarfrei veröffentlicht werden. Text Englisch
Ein glücklicher Fund mit Ablaufdatum
Eine kurze Geschichte der 24-Stunden-Betreuung
Kai Leichsenring
Vor 30 Jahren machte die österreichische Gesellschaft einen glücklichen Fund. Kurz davor war das Pflegegeld eingeführt worden und in der nächsten Umgebung gab es jetzt seit ein paar Jahren durchlässige Grenzen und Nachbarländer, wo Menschen arbeitslos waren bzw. mit ihren mageren Löhnen kaum überleben konnten. Viele von ihnen konnten sogar Deutsch und wurden, anfangs vor allem von Menschen mit Behinderungen im Erwerbsalter, als persönliche Assistentinnen angeheuert und bezahlt – unangemeldet und unbürokratisch, aber natürlich fern jeglicher Legalität. Dieses do-it-yourself Betreuungsmodell wurde dann auch von jenen entdeckt, die ältere Familienmitglieder mit Pflegebedarf betreuen mussten und Platz für eine Betreuerin hatten. Die 24-Stunden-Betreuung war geboren.
Die aktuelle Diskussion über die 24-Stunden-Betreuung lässt mich daran denken, wie es wohl Ljiljana geht. Sie stammt aus der Ost-Slowakei und als wir sie im Rahmen einer Studie über „Gute Pflege aus Sicht der Beschäftigten“ vor 10 Jahren interviewten, war sie Ende 40, geschieden, ihre Tochter brauchte finanzielle Unterstützung für das Studium. Ihre eigenen Eltern waren bereits in Pension. Sie hatte ihre Arbeit als Lehrerin mit deutschem Hochschulabschluss an den Nagel gehängt und war in die 24-Stunden-Betreuung in Österreich eingestiegen, weil dies nun als „legale Arbeit“ geregelt war. Darüber hinaus war der Verdienst im Vergleich zum Lehrergehalt in der Slowakei durchaus attraktiv, zumal auf zwei Wochen Arbeit rund um die Uhr zwei Wochen freie Zeit in der Heimat warteten. Allerdings meinte Ljiljana bereits damals, dass ihre Situation ausgenutzt werde. Auch viele ihrer Kolleginnen, mit denen sie die langen Stunden im Sammeltaxi verbrachte, waren überzeugt, dass die Bezahlung in Relation zur geleisteten Arbeit einfach zu niedrig sei. Zuletzt war Ljiljana an eine 85-jährige Klientin mit Demenz vermittelt worden, ohne Vorbereitung und Unterstützung. Das Einzige, was ihr die Agentur mit auf den Weg gab, war ein Handbuch zum Thema. Mit der „Selbständigkeit“ sei das auch so eine Sache – Abhängigkeiten gebe es gegenüber der Vermittlungsagentur und den jeweiligen Familien. Das sei halt immer eine Lotterie, in welche Familienkonstellation man da geworfen wird.
Obwohl schon seit Jahren darauf hingewiesen wurde, dass die in vielerlei Hinsicht problematische 24-Stunden-Betreuung ein Modell mit Ablaufdatum ist, wurde es in Österreich spätestens seit seiner „Legalisierung“ (2007) als wesentliche Säule des hiesigen Pflegesystems weiterentwickelt. Damals wurde das „Hausbetreuungsgesetz“ verabschiedet, welches den gesetzlichen Mindeststandard absteckt und immerhin als einzigartig in Europa gilt. In Deutschland, Italien oder Spanien findet die Personenbetreuung durch Migrantinnen aus Polen, Rumänien oder Südamerika nach wie vor im weitgehend ungeregelten Graubereich, teilweise registriert oder ganz schlicht als Schwarzarbeit statt. Beim Hausbetreuungsgesetz geht es selbstverständlich nicht um die Betreuung von Häusern – der unglückliche Titel des Gesetzes weist jedoch auf die Komplexität hin, die eine Steuerung der Betreuung von „Personen in deren Privathaushalten“ umfasst. In der Realität wurde das im Gesetz vorgesehene Anstellungsmodell mit Arbeitszeitregelungen nach dem Hausgehilfen- und Hausangestelltengesetz nur in ganz wenigen Fällen umgesetzt. Stattdessen haben mehr als 99,8% aller 24-Stunden-Betreuerinnen (etwa 95% sind weiblich) die vorgesehene Alternative gewählt und üben das Gewerbe der Personenbetreuung aus. Sie sind somit selbständig und unterliegen keinen Arbeitszeitregelungen. Sie sind bei der Wirtschaftskammer Österreich registriert, genauso wie die rund 900 Vermittlungsagenturen, auf deren Dienste sie angewiesen sind, und für die sie auch entsprechende Beiträge abführen müssen. Darüber hinaus wurden Förderungen auf Bundesebene und in ausgewählten Bundesländern eingeführt, die bis zu einer gewissen Einkommensgrenze gewährt werden, um die Mehrkosten der Anstellung bzw. der Formalisierung des Betreuungsverhältnisses zu kompensieren.
Auf Basis dieser Regelungen wurde die Personenbetreuung zu einem Erfolgsmodell gegen Schwarzarbeit in diesem Sektor und zu einem stetigen Wachstumsmarkt. Die Zahl der aktiven Personenbetreuerinnen stieg zwischen 2008 und 2019 von rund 24.000 auf rund 63.000, die etwa 6% der Bezieherinnen und Bezieher von Pflegegeld betreuen. Die darin enthaltenen Bezieherinnen und Bezieher von Förderungen für die 24-Stunden-Betreuung erreichten mit über 25.000 ihren Höhepunkt 2017. Bereits zu diesem Zeitpunkt begannen allerdings die Betreuerinnen aus Rumänien jene aus der Slowakei anteilsmäßig zu überholen, wodurch die ursprünglich 14-tägige Rotation durch Wechsel im monatlichen bis hin zu einem dreimonatigen Rhythmus abgelöst wurde.
Insgesamt wurde und wird die 24-Stunden-Betreuung weiterhin als win-win-Modell für alle Beteiligten gepriesen. Spätestens mit der Pandemie wurde allerdings auch die Fragilität der 24-Stunden-Betreuung sichtbar. Es waren nicht nur die Grenzschließungen, die solche Bruchlinien deutlich machten, sondern auch die soziale Isolation, in der Betreuerinnen und pflegebedürftige Menschen (meist über 80 Jahre alt) ihren Alltag miteinander verbringen. Indem jene, die im Land waren, monatelang unter besonders prekären Bedingungen arbeiteten, und jene, die im Lockdown im Heimatland waren, ohne Arbeit und Einkommen ausharren mussten, wurden die prekären Arbeitsbedingungen deutlich – mehr noch:
• Die grundsätzliche Stärke und gleichzeitig größte Problematik der 24-Stunden-Betreuung besteht darin, dass dabei eine „familienähnliche“ Betreuungssituation simuliert wird, die – wie auch bei der unbezahlten Betreuung durch Angehörige – an der Nahtstelle zwischen privater und öffentlicher Sphäre stattfindet, wobei öffentlichen Systemen kaum Möglichkeiten der Kontrolle und Einflussnahme offenstehen. Regelungen zur Arbeitszeit, der Arbeitsbedingungen oder Qualitätssicherung haben im Bereich der Privatsphäre nur sehr beschränkte Wirkung, die Beziehungsarbeit zwischen Betreuerinnen, betreuten Personen und Familienangehörigen bleibt den Betroffenen überlassen.
• Für Personenbetreuerinnen selbst kommt neben dieser Dynamik jene der eigenen Familiensituation sowie das Verhältnis mit der jeweiligen Vermittlungsagentur hinzu. Wenn etwa die eigenen Kinder vornehmlich von den Großeltern betreut werden oder wenn die eigenen Eltern pflegebedürftig werden, führt dies zu Krisen- und Belastungssituationen, die nur schwer zu verarbeiten sind.
• Hinzu kommen Belastungen durch Überforderung aufgrund zunehmend komplexer Formen der Pflegebedürftigkeit der Klientinnen (Stichworte: Demenz, Multimorbidität), die unbezahlten Reisezeiten, die fehlende Zeit für Übergabegespräche zwischen den Betreuerinnen und das eigene Älterwerden.
• Aufgrund der nachhaltigen Konvergenz der Gehälter in ihren Heimatländern und der Tatsache, dass auch in den osteuropäischen Nachbarländern die Langzeitpflege ausgebaut wird, finden sich immer weniger Betreuerinnen, zumal solche mit einer entsprechenden Ausbildung, die diese Belastungen auf sich nehmen. Viele Agenturen bieten inzwischen Personenbetreuerinnen ohne Deutschkenntnisse zu geringeren Preisen an. Jene Agenturen, denen Qualität ein echtes Anliegen ist, sehen sich mit wachsenden Personalengpässen konfrontiert.
Ökonomisch und ökologisch stellen sich ebenfalls einige kritische Fragen. Ökologisch geht es vor allem um die langen Fahrten der Betreuerinnen quer durch Europa. Volkswirtschaftlich geht es um (Opportunitäts-)Kosten und Nutzen aus unterschiedlichen Perspektiven der Beteiligten. Die Betreuerinnen zahlen Großteils die vollen Sozialabgaben für Selbständige ein, nehmen aber z.B. in der Krankenversicherung nur Leistungen von rund 50% der eingezahlten Summe in Anspruch. Demgegenüber stehen Kosten von rund 155 Mio. Euro für die Förderung, die etwa 75% der Nutzerinnen erhalten, wobei ein Hauptziel der Förderung ursprünglich genau darin bestand, die entstandenen Mehrkosten durch die Sozialversicherungspflicht abzudecken. Diese Kosten stehen allerdings in keinem Verhältnis zu den Einsparungen, die Österreich durch die Personenbetreuerinnen verbuchen kann – ohne sie würden wohl mindestens 20.000 weitere Pflegeheimplätze und/oder sonstige Alternativen im mobilen Bereich benötigt. Die rund 1,5 Mrd. Euro, die momentan jährlich vor allem nach Rumänien und in die Slowakei abfließen, würden dafür bei weitem nicht ausreichen. Ganz abgesehen davon, dass bereits die bestehenden Heime und Dienstleistungserbringer keine ausgebildeten Pflegekräfte finden und ganze Stockwerke geschlossen bleiben. Tausende zusätzliche Angehörige müssten erwägen, wie sie ihre Erwerbstätigkeit mit der Betreuung ihrer Angehörigen vereinbaren könnten, und viele würden (müssten?) deshalb möglicherweise ihren Beruf aufgeben.
Ende 2023 waren zwar immer noch 57.634 selbständige Personenbetreuerinnen bei der Wirtschaftskammer registriert, die Zahl ist jedoch bereits seit 2019 rückläufig. Ein Rückgang zeigt sich auch bei der Anzahl der Förderungen – nurmehr rund 22.000 Antragsteller:innen erhielten sie Ende 2023, bei gleichzeitiger Zunahme der Zahl der Anspruchsberechtigten auf Pflegegeld auf 476.228 (+3,7%). Die Förderung war 2023 erstmals um 16,6% auf nun 800 Euro monatlich valorisiert worden, um zumindest die jüngsten Teuerungswellen zu kompensieren. Eine weitere Steigerung dieser Förderung sowie eine Erhöhung der Einkommensgrenze, die den Zugang auch für Personen mit einem Einkommen über 2.500 Euro ermöglichen soll, wurde seitens der Wirtschaftskammer und zuletzt von einer neuen Plattform von Patienten-, Angehörigen-, Personal- und Anbietervertretungen gefordert.
Geld allein wird die grundsätzlichen Problembereiche des 24-Stunden-Betreuungsmodells nicht lösen. Wie in so vielen Branchen und insbesondere in der Langzeitpflege allgemein wird auch hier der Arbeitskräftemangel zur größten Hürde. Die 24-Stunden-Betreuung wird nicht von einem Tag auf den anderen verschwinden, aber der Aufholprozess der osteuropäischen Mitgliedstaaten gegenüber den reichsten EU-Ländern war seit 2004 durchaus beeindruckend. Erreichten die Haushaltseinkommen in den neuen Mitgliedstaaten vor 20 Jahren im mittleren Einkommensbereich gerade einmal 25% der reichsten EU-Länder, so liegt dieser Wert heute bei rund 62%. In der Slowakei verdienen bereits heute nur 25% des Gesundheits- und Pflegepersonals weniger als 2.000 Euro – mehr wird für selbständige Personenbetreuerinnen in Österreich nur selten bezahlt.
Es geht daher darum, sich auf einen stetigen Abbau einzustellen und entsprechende Vorsorge zu treffen. Dabei könnten wir uns die Erfahrungen in Ländern ansehen, wo unser Modell der 24-Stunden-Betreuung meist nur Kopfschütteln auslöst – in Schweden, Norwegen oder auch in den Niederlanden wird diese Betreuungsform als unzulässige Ausbeutung, oder rechtlich zumindest als Scheinselbständigkeit, angesehen. Zwar gibt es in den Niederlanden das Modell der persönlichen Assistenz für Menschen mit Behinderungen (im voll bezahlten Anstellungsverhältnis mit klaren Regeln gegen Scheinselbständigkeit), ansonsten jedoch ein gut ausgebautes Netz an sozialen Diensten und Heimen auf Basis einer Langzeitpflege-Versicherung. Auch hier steht allerdings das Thema Personalmangel auf der Agenda, denn der hohe Anteil an Pflegekräften an der Gesamtbeschäftigung beinhaltet auch einen überdurchschnittlich hohen Prozentsatz von Mitarbeiterinnen, die Teilzeit arbeiten.
Auch in der Schweiz ist die Personenbetreuung in Privathaushalten ausschließlich im Anstellungsverhältnis mit der entsprechenden arbeitsrechtlichen Absicherung möglich. In Spanien und Italien wurden zwar während der letzten Jahre wichtige gesetzliche Reformen und kollektivvertragliche Vereinbarungen umgesetzt, allerdings spielt dort die die Schwarzarbeit in Haushalten nach wie vor eine immens wichtige Rolle.
Wie mag es wohl Ljiljana inzwischen gehen? Wie viele ihrer Kolleginnen ist sie nun dem Pensionsalter nahe, ihre Tochter hat wohl das Studium abgeschlossen und ihre Eltern werden zunehmend mit altersbedingten gesundheitlichen Problemen konfrontiert sein. Sie selbst wird die regelmäßigen Reisetage, aber vor allem die zunehmend anspruchsvollen Betreuungsaufgaben bei den Klient:innen als stärkere Belastung empfinden. Der Versuch der Indexierung der Familienbeihilfe 2018 durch die österreichische Bundesregierung wird sie ebenso gekränkt haben wie der Umgang mit den 24-Stunden-Betreuerinnen während der Pandemie. Falls sie noch als Personenbetreuerin arbeiten sollte, hat sie sich wahrscheinlich spätestens während der Corona-Krise der „Iniciativa24: Interessenvertretung der slowakischen 24-Stunden-Betreuer_innen“ angeschlossen, die sich später u.a. gemeinsam mit der von rumänischen Betreuerinnen ins Leben gerufenen Initiative „DREPT“ (Gerechtigkeit in der Pflege und Personenbetreuung) in der IG24 vereinte. Parallel dazu entwickelte sich innerhalb der vidaflex, Europas erster Gewerkschafts-Initiative für Ein-Personen-Unternehmer:innen, eine eigene Gruppe, die sich inzwischen als größte freiwillige Interessenvertretung für 24-Stunden-Betreuerinnen in Österreich positioniert hat. Auch der vidaflex geht es um die Bekämpfung von Scheinselbständigkeit und die Durchsetzung von Arbeitnehmerinnenrechten, wenn etwa Agenturen die Betreuerinnen im Glauben lassen, sie seien in einem Angestelltenverhältnis. Gemeinsam mit Betreuerinnen hat die vidaflex eine Plattform entwickelt, die selbständige 24-Stunden-Betreuerinnen vermittelt. Ziel ist es, sich als „bessere“ Vermittlungsagentur zu positionieren und über die Plattform ausschließlich adäquat ausgebildete Betreuerinnen mittels eines direkten Vertrags zwischen Betreuerin und zu betreuender Person zu organisieren. Die vidaflex und die IG24 vertreten somit die Anliegen der Personenbetreuerinnen quasi mit einer Stimme. Konkret geht es um den Kampf gegen die Scheinselbständigkeit, die Thematisierung der Grauzone zwischen Betreuung und Pflege, aber auch von (sexueller) Gewalt am Arbeitsplatz, um insgesamt die Würde als Frauen und migrantische Arbeitskräfte zurückzugewinnen. Ein Zukunftsszenario könnte sein, im Bereich der 24-Stunden-Betreuung so etwas wie Kollektivvertragsfähigkeit herzustellen, wie zuletzt auch im Sozialbericht 2024 des Bundesministeriums für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz vorgeschlagen wurde. Dazu bedürfte es auf Seiten der Arbeitgeber:innen einer bedeutsamen Neuorganisation – die bereits in der Wirtschaftskammer organisierten Vermittlungsagenturen wären eine Möglichkeit, wenn sie zu echten Arbeitgeber:innen würden, zusätzlich könnte sich aber auch ein Verband der anstellenden Familien gründen, wie etwa in Italien.
Ob Ljiljanas aktive Kolleginnen echte Kollektivvertragsverhandlungen oder gar ein Anstellungsverhältnis noch in ihrem Berufsleben als Personenbetreuerinnen erleben werden, ist ungewiss. Gewiss ist, dass uns Fragen der Ein-Personen-Unternehmen, Plattformarbeit und Scheinselbständigkeit in Zeiten digitaler Transformation in der Arbeitswelt weiter beschäftigen werden – glückliche Funde inklusive.
Kai Leichsenring ist Executive Director des European Centre for Social Welfare Policy and Research, Wien. Das European Centre ist den Vereinten Nationen angegliedert und begeht 2024 sein 50. Jubiläum als Zentrum für internationale Forschungs- und Politikexpertise in den Bereichen Sozialer Sicherung, Inklusion, Gesundheit, Langzeitpflege, Beschäftigung und Arbeitskräftemobilität.